Die Finanzbranche misst den Faktoren Umwelt, Soziales und Unternehmensführung (Environment, Social, Governance/ESG) seit kurzem eine viel größere Bedeutung bei.
Auch in den Regierungen von Staaten steigt das Interesse und die Folgen von ESG für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung werden betont. Das sollte nicht überraschen. Ökonomen und Historiker diskutieren schon seit langem die Bedeutung von Umweltfaktoren und sozialen und politischen Institutionen für die langfristige wirtschaftliche Entwicklung von Ländern. Einige der frühen Theorien – sie reichen zurück bis in die Zeit von Machiavelli im 16. Jahrhundert – wiesen der Rolle der Umwelt eine große Bedeutung zu und betonten, dass Geografie und Klima den Erfolg von Landwirtschaft, die Verbreitung von Krankheiten und weitere maßgebliche Faktoren des Wirtschaftswachstums bestimmen. Die Rolle von Umweltfaktoren wurde in jüngerer Zeit von Jared Diamond in seinem Bestseller Guns, Germs and Steel aus dem Jahr 1997 und von Jeffrey Sachs in einem Artikel aus dem Jahr 2001 (Tropical Underdevelopment, National Bureau of Economic Research) untersucht.
Die Bedeutung von Institutionen wurde sogar noch ausführlicher untersucht und dokumentiert. Zwei Beispiele: Der Politikwissenschaftler Robert Putnam aus Harvard vertritt die Auffassung, dass die sehr unterschiedliche Wirtschaftsleistung italienischer Regionen auf die jeweilige Stärke zivilgesellschaftlicher Institutionen bis in die Zeit der Renaissance zurückverfolgt werden kann (Making Democracy Work, 1993). In Why Nations Fail (2012) vertraten Daron Acemoglu und James Robinson die Auffassung, dass wirtschaftliche und politische Institutionen die bei weitem wichtigsten Treiber der Wirtschaftsleistung sind.
Unserer Ansicht nach sollte jede makroökonomische Analyse und Anlagestrategie, die auf eine langfristige, an Fundamentaldaten orientierte Wertentwicklung fokussiert ist, ESG-Faktoren als Eckpfeiler ihrer Analyse integrieren. ESG steht für das Potenzial einer Wirtschaft als Investment-Ziel und für die Nachhaltigkeit dieses Investments. Die Nützlichkeit einer Integration der ESG-Analyse wird nicht nur durch die Branchenforschung gestützt,[1] sondern wir halten sie ferner für eine wesentliche Säule unseres Research-Prozesses.
Gründe:
- Die Qualität der Governance und politischer und wirtschaftlicher Institutionen spielt insbesondere in Schwellenländern und Grenzmärkten eine wichtige Rolle für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung. Robuste Governance trägt zur Qualität, Stabilität und Vorhersehbarkeit des politischen Umfelds bei und geht in der Regel mit stärkerem potenziellem Wachstum sowie einer größeren Widerstandskraft gegen innere oder äußere Herausforderungen einher. Sie trägt zur Bestimmung des Risikos finanzieller und wirtschaftlicher Krisen bei. Eine neue Regierung, die imstande ist, die Richtung der Politik radikal zu ändern, kann der Grund sein, in einen Markt einzutreten oder ihn zu verlassen. Manche Governance-Faktoren wie z. B. Korruption und die Haltung gegenüber ausländischen Investitionen beschreiben zudem in Form von politischen Skandalen und Politikwechseln, die Investitionen erschweren, hohe Risiken.
- Soziale Bedingungen beeinflussen eine ganze Reihe politischer Themen, darunter Stabilität und Policy-Mix, während sie über Wettbewerbsfähigkeit und Effizienz auch unmittelbare Auswirkungen auf die gesamtwirtschaftlichen Entwicklungen eines Landes haben. Obwohl viele soziale Faktoren das langfristige Wachstumspotenzial betreffen, können sie auch erhebliche kurzfristige Folgen haben. Fehlende soziale Stabilität kann zu bewaffneten Konflikten führen oder gerissenen politischen Kräften häufig zum Nachteil der Bevölkerung Möglichkeiten bieten. Zugleich haben Faktoren wie z. B. Lohndruck und Infrastrukturentwicklung reale Effekte sowohl auf die innen- als auch außenwirtschaftliche Aktivität.
- Umweltfaktoren spielen auch eine wichtige Rolle, insbesondere in Schwellenländern und Grenzmärkten, die in der Regel eine lockerere Regulierung und eher begrenzte Fähigkeiten und Ressourcen zur Reaktion haben. Naturkatastrophen wie Dürren, Überschwemmungen, Erdbeben und Wirbelstürme können verheerende Folgen für Mensch und Wirtschaft haben. Neben den menschlichen Kosten können sie Unterbrechungen der Energie-, Lebensmittel- und Güterversorgung und somit eine sprunghaft steigende Inflation oder Unterbrechungen der Lieferkette verursachen. Nicht nachhaltige Praktiken und Umweltverschmutzung können soziale Instabilität verursachen, und Aufräum- und Sanierungskosten können das Wachstumspotenzial einer Wirtschaft beschneiden.